Verewigt im Fachwerk

Wie weit ist die Vergangenheit schon entfernt? Vom Haus meiner Großeltern die Straße entlang, hin zum Zigarettenautomaten, wo ich für Großvater das erste mal eine Schachtel Marlboro ziehen durfte. Der Weg des silbernen Fünf-Mark-Stücks in den Münzschlitz, meine Fußballen in der Luft, die Zehen fest auf den warmen Asphalt gepresst, nur so komme ich an die Öffnung. Unendliche Wochen des Sommers. Wie lang sind denn schon drei Stunden? Auf die A3, dann noch ein Stück über die Bundesstraße. Der ICE Richtung Stuttgart. Umsteigen in die Regionalbahn. Entfernungen, geeicht auf 130 km/h Reisegeschwindigkeit. Postkarten, Bilderalben, Poesiebücher. Ein altes Foto im Geldbeutel. Schon ganz ausgeblichen und zerknittert von all den Händen, die es den vielen Augen zeigen wollten.

Wir durchkreuzen Orte, die ein „dorf“, „bach“, „berg“ und hin und wieder auch ein „burg“ als Endsilbe haben. Mir gegenüber sitzt ein älterer Mann, der bereits wenige Sekunden nach Reisebeginn die Augen schließt und sie erst wieder öffnen wird, als wir in seinem Zielbahnhof einfahren. Auf der anderen Seite niest jemand rasch einige male hintereinander. Ich desinfiziere mir mit etwas Sagrotan die Hände und atme schwer aus. Nicht jeder der niest ist krank, nicht jeder der schläft müde. Aber man kann ja nie wissen. Ist hier denn ein Arzt anwesend? Als wir die Landesgrenze passieren, und sich Baden Württemberg von seiner besten Seite zeigt, bin ich etwas enttäuscht. Ich hatte es mir magischer vorgestellt. Als würde man durch einen zauberhaften Schleier fahren. Regional Express ins Wunderland.

 

Ausstieg in Fahrtrichtung rechts

 

Nächster Halt Murrhardt, Ausstieg in Fahrtrichtung rechts. Das große Bahnhofsgebäude ist inzwischen verlassen, der kleine Kiosk geschlossen. An einer Telefonzelle wurde ein Greta Thunberg Aufkleber angebracht. Auch hier ist also der Klimawandel angekommen. Freitage für die Zukunft, Samstage für den Großeinkauf. Ich hebe den Hörer ab, es ist kein Freizeichen zu hören. Für einen Apriltag ist es viel zu heiß und ich denke an die mahnenden Worte meines Hautarztes, der mir auferlegte, selbst bei mäßiger Sonneneinstrahlung unverzüglich einen Sonnenschutz aufzutragen. Es ist Feiertag und die Geschäfte haben geschlossen – der Hautkrebs muss warten.

Der Weg in den Stadtkern ist mir noch immer vertraut, und Stadtkern ist beschönigend, denn es gibt nur den Kern, keine Schale. Das Wasser des namensgebenden Flusses Murr, der durch den Ort fließt, ist klar. Auch die alte Postfiliale steht noch immer an ihrem Platz, und es macht Sinn, denn hier schreibt man sich noch Briefe. Im Biergarten des Hotels riecht es nach Hefeweizen und Bratensoße. Er ist gut gefüllt und über die kleine Lautsprecheranlage summt ein aufdringlicher Radiosender. Das grelle Geräusch der Tischglocke dröhnt durch den angrenzenden Speisesaal. „I begrüß Sie im Hotel Sonnaposcht – wolla Sie eichecka?“. Das Zimmer ist sparsam eingerichtet aber sauber, das Bad neu gefliest. Ich lasse Rucksack und Jacke zurück, schließe zwei mal ab und rüttle anschließend an der Türe.

In der ganzen Stadt riecht es nach Blüten und Frühling. Vor der Eisdiele hat sich eine lange Schlange gebildet. Alles ist wie in meiner Erinnerung, nur völlig anders. Mein Weg durch die Straßen und Gassen fühlt sich an, als hätte man mir die letzten fünfzehn Jahre ein Gemälde beschrieben, dass ich nun zum ersten Mal in Wirklichkeit sehe. Die Distanzen sind viel kürzer als ich dachte und die Hügel weniger steil als angenommen. Manche Häuser stehen an der falschen Stelle, andere wiederum haben ihre Form verändert. Langsam beginne ich mich zu fragen, welches Murrhardt das echte ist – das aus meiner Erinnerung, oder das aus Holz, Stein und Beton, und ob das ohnehin überhaupt eine Rolle spielt. Die Gäste eines Cafés mustern mich. Es ist seltsam, wie ich alles kenne und mich niemand.

 

Ich hätte den Seglern in Kiel zuschauen können

 

„Kann mor Ihne helfa? Sucha Sie was?“, fragt mich die Frau und blickt auf meine Kamera.

Natürlich suche ich etwas. Natürlich bin ich rastlos, drehe Steine um, gehe alte Wege ab, versuche mich zu erinnern. Aber vielleicht liegt auch genau darin die Antwort meiner Reise. Vielleicht ist das, was ich suche, nicht in der Vergangenheit zu finden. Denn wissen Sie, gute Frau, vielleicht ist die Zukunft es viel mehr wert erforscht zu werden. Ganze Exceltabellen und Power Point Präsentationen könnte ich damit füllen.
„Eine Toilette“, antworte ich.
„Wir hän hier die nette Toilette. Da könne se in fascht alle Cafés und Reschtaurants neiganga und do ufn Topf geha“.
„Tolles Konzept, vielen Dank!“.

Hier ist alles so, wie man sich vorstellt das alles zu sein hat, wenn man von „früher“ spricht. Und vielleicht macht genau das den Reiz aus, denn hätte ich etwas Neues haben wollen, wäre ich an einen anderen Ort gereist. Ich hätte den Seglern in Kiel zuschauen, in Bochum eine Currywurst essen oder eine Führung im Schloss Neuschwanstein machen können. Ich hätte an der richtigen Stelle über den eingeübten Witz des Fremdenführers gelacht. Ich hätte brav etwas mehr Trinkgeld als sonst üblich gegeben. Ich hätte mir im Souvenirladen einen Schlüsselanhänger gekauft. Ich hätte eine Postkarte geschrieben.

Im Schatten einer alten Trauerweide beobachte ich, wie die Schwäne ihre Bahnen ziehen. Da sie bis zu zwanzig Jahre alt werden können, grüble ich, ob es wohl die selben sind, die ich als als Kind schon gefüttert habe. Ein einfaches „Hallo, schön, dass du wieder da bist. Bleibst du zum essen?“, von ihnen würde mir schon genügen. Die angrenzende Bücherei wirkt längst nicht mehr so imposant wie in meiner Erinnerung, aber es macht mich glücklich zu sehen, dass sie noch immer gut besucht zu sein scheint.

 

 

Der Friedhof liegt zentral in den Hängen über der großen Parkanlage. Die erste Etappe ist eine Kirche. Als ich ankomme, findet gerade eine Ostermesse statt. Von oben hat man einen herrlichen Ausblick über die ganze Stadt. Ich versuche mich an den kalten Dezembertag vor fünfzehn Jahren zu erinnern, als wir von der Autobahn direkt ohne Umwege auf den Friedhof fuhren. An den Weg von der Kirche hinauf zu den Gräbern, die kleine Urne auf einem wackligen Wagen. Ich lese die Namen der Grabsteine, meine mich an manche erinnern zu können. Dann bin ich am Ziel. Ich wische etwas Staub vom dunkelroten Granitstein und streife mit meinem Finger über die Gravur. Die Erde am Grab ist etwas trocken und ich gehe an die Wasserstelle, um eine der großen grünen Gießkannen zu füllen. „Junger Mann, könne Sie mir vielleicht korz traga hälfa?“, fragt die alte Dame und deutet auf zwei bis nach oben gefüllten Kannen. An den Seiten sind sie bereits etwas übergelaufen. Natürlich, antworte ich ihr, wo sie denn hin müsse? Ganz oba nuff, zum Grab von ihrem Ernscht, der isch letztes Jahr gschtorba. Abor des isch so weit zum laufa und an Aufzug hän se do no ned baut, aber a Geld isch ja au koins do. Ich greife die beiden Kannen und wir gehen die vielen Treppenstufen bis ganz nach oben, besuchen ihren Ernst. Es ist unerträglich heiß. Bitte Greta, mach endlich was.

Im Hotel angekommen dusche ich zuerst. Als das kalte Wasser meinen Körper hi­n­un­ter­flie­ßt bemerke ich erst, wie hungrig ich bin. Die Frau an der Rezeption ähnelt der Angestellten, die mir bereits früher am Tag meinen Zimmerschlüssel gegeben hatte, nur um 25 Jahre verjüngt. Ich mutmaße, ob sie ihre Tochter ist. „Küche hat erscht wiedor um fünfe offa“, antwortet sie auf meine Frage, ob ich denn etwas zum Essen bestellen könne. Es ist 16.45 Uhr.

„Darf i ihre Beschtellung ufnemma?“, fragt sie und ich lege das Buch beiseite, dass ich mir zum Zeitvertreib mit in den Hotel-Biergarten genommen habe. Schweinelendchen in Pilzsoße. Bitte mit Pommes statt mit Spätzle. Trotz des verächtlichen Blicks erhalte ich kurze Zeit später meine wohlverdiente Mahlzeit. Bis auf den letzten Klecks Soße esse ich alles auf. Sie blickt auf den leeren Teller und fragt mich, ob es mir geschmeckt habe. „Isch wirklich leckor gwäsa, großes Kompliment an die Küche“, antworte ich. Kaum verlassen die Worte meinen Mund, schäme ich mich. Das klang, als würde ich einen Schwaben spielen. Schnitt, bitte noch mal. Etwas weniger gekünstelt. Ich bin nicht mehr authentisch, und es überrascht mich, wie sehr mich der Verlust einer Tradition kränkt, die mir nichts bedeutet. Ich gebe ihr fünf Euro Trinkgeld.

 

Diese Orte und Dörfer sind wie kleine fragile Ökosysteme in Terrarien

 

Frühschtück gibt’s um achte. Mein Wecker klingelt um 07.45 Uhr und ich betrete wenige Minuten nach Acht den Speisesaal. Die Sektflasche neben der Orangensaftkaraffe ist bis auf einen kleinen Anstandsrest bereits leer. Am Tisch nebenan sitzt eine Gruppe älterer Menschen. Sie sind überaus gut gelaunt. „Sowas wird heut ja gar nemme gmacht“, sagt einer. Und natürlich wird das heute nicht mehr gemacht, ganz vieles machen wir heute nicht mehr, zum Beispiel Hexenverbrennungen. Er redet weiter und drückt dabei mit dem Zeigefinger wiederholt auf ein Brötchen. „Schau mol, total fluffig, ned so a Fertigscheiss“.

„Hats ihne gfalla bei uns?“, die Rezeptionistin lächelt mich an. Es ist wieder eine andere als am Vortag. Natürlich hat es das. Diese Orte und Dörfer sind wie kleine fragile Ökosysteme in Terrarien, und man wundert sich, wenn nach all den Jahren noch alles intakt und lebendig ist. Und insgeheim hat man den Wunsch, dass die Stadt in Schutt und Asche liegt, wenn man sie verlässt. Der Gedanke, dass etwas Gutes nach einem weiter existieren darf, schmerzt. Man will es nur für sich haben. Erinnerungen, verewigt im Fachwerk.

Langsam schiebt sich der Zug an den Obstbäumen, Weiden und Häusern vorbei, und ich stelle mir ein Leben vor, das ich hätte leben können. Den ersten Kuss. Das erste Mal. Das zweite Mal. Das hundertste Mal. Das erste Mal, als es etwas bedeutete. Das eine Mal, als es dann passierte. Ein Junge. Dann viel später noch ein Mädchen. Ungewollt aber nie ungeliebt. Die neue Kollegin im Büro. Die Blicke, die Momente, der Kuss auf der Weihnachtsfeier. Das eine Mal, das andere Mal, die vielen Male dazwischen. Das schlechte Gewissen, das Gespräch, die Scheidung. Die Rente, die Abende alleine, das verlassene Ferienhaus in Norwegen. Der Anruf und das Desinteresse in den Gesichtern meiner Kinder, die ich nie hatte. Die lausige Grabrede des Pfarrers, der üppige Leichenschmaus und die ewige Stille, die ich nie hören werde.